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Wertvolles Reigoldswil
Reigoldswil ist eigentlich eine Gemeinde wie viele andere in der Schweiz. Die noch vorhandenen historischen Bauten entlang der hinteren Frenke sind umsäumt von bunten Einfamilienhausquartieren. An den Ortseingängen sind Gewerbebetriebe angesiedelt. Die Alterspyramide der Reigoldswiler Bevölkerung liegt im Schweizer Durchschnitt. Wie überall, beklagt sich die Politik über das Fehlen von jungen Familien, über das geringe Steueraufkommen, über die hohen Kosten und über das vorhandene Defizit in der Gemeindekasse.
Aber neben einer unverwechselbaren Naturlandschaft ist an Reigoldswil die Lage speziell erwähnenswert. Am Ende des Tals der hinteren Frenken bettet sich das Dorf harmonisch in die offene Talmulde ein. Die Lage bietet Geborgenheit. Von den umliegenden Hügelzügen kann der Weitblick genossen werden.
Reigoldswil unterscheidet sich ausserdem aktuell in einem Punkt von den meisten anderen Gemeinden der Schweiz. Reigoldswil gibt sich eine neue Heimatkunde. Ich wurde angefragt unter dem Titel «Aussensicht» einen Textbeitrag für die neue Heimatkunde zu schreiben. Als ich zusagte, dachte ich mir: «easy, ich schreib mal schnell was». Ich kenne ja alles. Das geht leicht von der Hand. Je mehr ich mir jedoch dazu Gedanken machte, desto schwieriger wurde es. Ich fragte mich, was wird von mir erwartet? Eine kritische Sicht von aussen? Eine Anleitung für die Dorfzukunft? Oder was? Alles irgendwie schwierig. Ein Loblied auf das «schönste Dorf ennet dem Jura»? Einen Text über die schönen Hügelzüge der Region Wasserfallen, über die Gondelbahn, über die Leute oder über das aktive Vereinsleben?
Es ist nun 21 Jahre her, dass ich mit meiner Familie von Reigoldswil nach Rünenberg zog und meinen schönen Heimatort verliess. Meine Wurzeln liegen in Reigoldswil. Ich bin dort aufgewachsen, zur Schule gegangen und habe noch immer Freunde und Bekannte in Reigoldswil. Meine Eltern und meine Schwester mit ihrer Familie leben «uf dr Chläbere». Ich kenne das Dorf, die Landschaft und die Leute sehr gut. Aber steht es mir zu, nach so langer Zeit von aussen über Reigoldswil zu schreiben? Es ist klar, dass sich meine Beziehung zu Reigoldswil in den letzten 21 Jahren verändert hat. Es ist heute eine neue, andere Beziehung als damals und über beide schreibe ich im Folgenden gerne ein paar Gedanken auf.
Auf Reisen ins Ausland ist die Identitätskarte unerlässlich. Auf meiner Identitätskarte steht «Reigoldswil» als Heimatort. Einmal musste ich einem Zöllner für ein Formular den Namen buchstabieren, da er offensichtlich Mühe hatte, das Wort richtig zu lesen, geschweige dieses richtig auszusprechen. Ich erklärte ihm: «You know, this ist my home village». «Home village»? Ist mein «home village» nicht Rünenberg? Und was kann der Zöllner mit dieser Information anfangen? Könnte er bei Unklarheiten den Gemeindepräsidenten von Reigoldswil anrufen: «Hello, Mister Präsident, wir haben hier einen Markus Vogt bei uns. Do you know him?» Kennt man mich in Reigoldswil überhaupt noch? Welchen Kontakt pflege ich als Bürger zu Reigoldswil? Welchen Kontakt pflegt die Gemeinde zu ihren «Bürgerinnen und Bürgern»?
Als Jugendlicher machte ich mit meinem Freund Matthias das Dorf unsicher. Wir stauten das Rüschelbächli so gut, dass es bei einem Gewitter über die Strasse floss. Wir schleppten Unmengen Holz in den Richtenberg und bauten dort unser Haus. Wir kletterten im Sommer auf Kirschbäume und assen bis uns schlecht war oder bis uns ein wütiger Baumbesitzer verjagte. Wir erkundeten jedes neue Haus im Rohbau und erklärten dieses zu unserem Besitz. Der Bachdurchlass unter dem Dorfplatz war unser Revier, ebenso die Ruine Rifenstein oder die Höhlen bei der Gillen. Kurz: Wir nahmen jeden Winkel und jede Ecke des Dorfes in Beschlag. Wenn ich heute in Reigoldswil bin, erinnere ich mich an diese Erlebnisse. Gleichzeitig befällt mich bei meinen Besuchen in Reigoldswil je länger je mehr ein Gefühl von Fremdsein. Viele der mir damals vertrauten Orte haben sich verändert oder existieren nicht mehr. Kenne, erkenne ich Reigoldswil noch? An was erkenne ich Reigoldswil? Was macht Reigoldswil heute aus?
Meine Nähe zu Reigoldswil besteht offensichtlich aus schönen Erinnerungen: Ich sehe zum Beispiel das Bild mit dem markanten Kirchturm über der vielfältigen Dachlandschaft des Ortskerns vor mir, dahinter liegen die sanften, bewaldeten Hügel der Wasserfallen, beleuchtet von der untergehenden Sonne über der Bretzwiler Höhe nach einem Sommergewitter. In der Luft liegt der Duft von verdunstendem Wasser, das von den heissen Strassen in einem kaum wahrnehmbaren Nebel aufsteigt. Dieses Bild steht auch in Verbindung mit weiteren schönen Erlebnissen meiner Kindheit. Ich erinnere mich an die sonntäglichen Empfänge vor dem Gemeindezentrum. Die Dorfmusik spielt den Baselbieter Marsch, die Vereine schwenken die Fahnen, alle singen mit und der Gemeindepräsident hält eine eindringliche Ansprache. Und im Hintergrund leuchtet die Kirche im abendlichen Sonnenlicht.
Überhaupt, die Kirche. Sie ist ein wichtiger Bestandteil meiner Beziehungen zu Reigoldswil. In ihr wurde ich getauft und konfirmiert. Kathrin und ich heirateten in der Kirche. Auch erinnere ich mich an Bauarbeiten am Kirchenturm. Ich war damals noch ein Kind. Zum Abschluss der Sanierungsarbeiten gab es ein grosses Fest rund um die Kirche. Dabei wurde die frisch polierte, goldige Kirchenspitzkugel mit Dokumenten gefüllt und in luftiger Höhe feierlich montiert. Die Bilder zur Kirche sind, weil in meiner Kindheit so oft gesehen, fest in mir verwurzelt. Sie lösen bei mir heute noch gute, angenehme Gefühle - wahrscheinlich müsste man sagen «Heimwehgefühle» - aus. Was befindet sich eigentlich in der Kugel auf dem Kirchenspitz?
In guter Erinnerung sind mir auch die stattlichen, traditionsreichen Höfe rund um Reigoldswil: Hof Gorisen, Hof March, Hof Zapfholdern als Beispiele. Aber fahre ich heute von meinem Elternhaus nach Seewen, fühle ich mich doch etwas fremd. Während moderne Stallbauten den Innovationswillen der Landwirtschaft demonstrieren, scheint es, dass viele traditionelle Wohn- und Wirtschaftsgebäude wenig unterhalten werden. Auch die das Landschaftsbild prägenden Kirschenbäume machen den Eindruck, als ob sie mehr geduldet als genutzt würden. Sind die Landschaft und die Landwirtschaft von Reigoldswil überdurchschnittlich stark von Veränderungen betroffen? Und wieso?
Wir bewirtschaften in Gelterkinden Reben und verkaufen den Wein in der näheren und weiteren Umgebung. Bei schönem Wetter sehe ich vom Rebberg aus die vertrauten Hügelzüge des Ulmets und erinnere mich an weitere schöne Erlebnisse. Ich sehe meine Kollegen und mich im Schneetreiben im knietiefen Schnee mit Haselruten auf der Schulter von der Ulmethöhe Richtung Geitenberg stampfen. Wir sind dabei, für das spektakuläre Jura-Infernorennen Material auf den Berg zu schleppen. Auch erinnern mich die Hügelzüge an die Schulzeit. Mit Willi Schaub alias «Stego», unserem Sekundarlehrer, wandern wir von Reigoldswil Richtung Ulmethöhe. Unterwegs zeigt er uns jede Blume, jeden Vogel und erzählt uns viele schöne Geschichten. Hat die Landschaft rund um Reigoldswil mein Interesse an der Natur, der Landwirtschaft und den Tieren geweckt und damit meinen Lebensweg mitbestimmt?
Neben einigen Freund- und Bekanntschaften machen heute vor allem Erinnerungen meine Beziehung zu Reigoldswil aus. Ich denke oft an die schönen Zeiten und vermisse diese auch. Aber die unbeschwerte Kinder- und Jugendzeit, die ich in Reigoldswil erleben durfte, kommt nicht mehr zurück. Ich lebe heute in Rünenberg. Es ist sehr schön hier und ich plane nicht, nach Reigoldswil zurückzukehren. Trotzdem steht für mich die Frage im Raum, was mich grundsätzlich zu einem erneuten Umzug an einen anderen Ort bewegen würde. Sozioökonomische Studien zeigen auf, dass bei der Wahl des Wohnortes meist rationale Gründe wie bezahlbares Bauland, eine Erbschaft, ein attraktives Einkaufsangebot oder eine gute Erschliessung im Vordergrund stehen. Reigoldswil bietet all dies. Ergänzend und völlig unwissenschaftlich behaupte ich, dass es weitere «soft facts» gibt, die ein Dorf sympathisch machen. Die Architektur, die Gestaltung der Freiräume, die politische Agenda oder einfach das Verhalten einzelner Menschen.
Reigoldswil gibt sich eine neue Heimatkunde. So wie mir, bietet der Prozess allen Beteiligten die Gelegenheit, sich Gedanken über die Werte, die Ausstrahlung und die eigene Beziehung zu Reigoldswil als Wohn- und Arbeitsort und somit zur eigenen Heimat zu machen. Daraus kann - im eigentlichen Sinn des Wortes - Wertvolles entstehen.
Ich wünsche Reigoldswil deshalb weiterhin viel Wertvolles.
Markus Vogt, Bürger von Reigoldswil
Beitrag Heimatkunde Reigoldswil zum Thema Perspektiven auf Reigoldswil, verfasst am 5.7.2022
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