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Haus zum Reifenstein: Ein Haus als Zeitzeuge!
Als das «Haus zum Reifenstein» 1840 von Hans-Jakob Zehntner auf der Bolstelmatt (unterhalb der heutigen Gemeinschaftspraxis) erbaut wurde, führte die Dorfstrasse gleich unterhalb des Hauses durch eine Furt im Bach talabwärts Richtung heutiger Seewenstrasse. Über diese gelangte man am linken Hang unterhalb des Bachmattenwäldchens und des alten Gorisenwegs beim Chrottenweiher zur Brücke in der Sternenrüti, und von dort nach Ziefen. Die Hintere Frenke floss im Unterdorf also auf der rechten Seite der Strasse, wo sich damals noch keine Häuser befanden. Brücken existierten im Dorf ebenso wenig wie die heutige Talstrasse nach Ziefen.
Um einen Eindruck der damaligen Verhältnisse zu vermitteln, sei aus den Erinnerungen von Leo Zehntner, dem Urgrossonkel des Autors, zitiert, der in den 50er-Jahren über diese Zeit berichtete: «Der Strassenstaub lag oft zentimeterdick auf den Strassen und wurde durch schnell fahrende Pferdefuhrwerke in ganzen Wolken derart aufgewirbelt, dass die strassennahen Felder davon gefärbt erschienen. Wenn es dann dreinregnete, bildete sich auf den Strassen eine mehr oder weniger flüssige Lage von Strassenkot, der den Fussgängern übel mitspielte.» (...) «Der Dorfbach war immer voll Unrat, viel ärger noch als heute, weil neben viel anderem alle toten Hühner und Katzen hineingeworfen wurden. Hühner wollte beinahe niemand essen, es graute den Leuten davor; also wurden die unrentablen getötet und in den Bach geworfen».
1830, also zehn Jahre vor dem Bau des Hauses zum Reifenstein, war bereits eine Feldscheune mit Gewölbekeller am gleichen Ort errichtet worden, an die das Landhaus im Biedermeierstil südlich angebaut wurde. Angaben zum Architekten existieren keine. Der Bauherr, Hans-Jakob Zehntner (1778 – 1841), war verheiratet mit Veronika Gerber aus Sumiswald, das Ehepaar hatte 11 Kinder. Er betrieb neben der Landwirtschaft eine Bäckerei und ein Wirtshaus am Dorfplatz. Das Haus baute er für seinen Sohn Hans-Ulrich (1815 – 1901), der in Basel und Würzburg Medizin studiert hatte und im Haus zum Reifenstein seine Arztpraxis eröffnete.
Bereits 1847 erlebte das Haus erstmals Geschichtsträchtiges, quasi Vorboten der Geburt der heutigen Schweiz, die mit der Verfassung von 1848 entstehen sollte. Mitstreiter der siegreichen Baselbieter Jägercompagnien, die zur eidgenössischen Armee gegen den abtrünnigen konservativen Sonderbund einberufen worden war, wurden mit einem Fest auf dem Platz vor dem Haus willkommen geheissen, nachdem sie vorher in Liestal einen triumphalen Empfang erleben durften. Johannes Zehntner hatte als Infanterist teilgenommen und sein Bruder Hans Ulrich, der Eigentümer des Hauses, als Ambulanzarzt.
Dessen Sohn Otto (1861 – 1942), der Urgrossvater des Autors, wurde Küfer und übernahm nach einigen Jahren der Walz in Frankreich Mitte der 1870er Jahre das Haus mit dem Landwirtschaftsbetrieb. Seine Frau Marie betrieb eine Gastwirtschaft, die sich im Parterre des Hauses befand. In dieser Zeit wurde die östlich gelegene gepflasterte Einfahrt zur Scheune überdeckt, und links und rechts dieser Einfahrt wurden zwei Zimmer gebaut. Das rechte diente als Küferwerkstatt – die «Boutique», wie sie zur Kinderzeit des Autors genannt wurde. Zu dieser Zeit erhielt das Haus auch einen Telefonanschluss. Die Wasserversorgung erfolgte schon früh über die beiden eigenen Quellen. Eine führte vom Ryfenstein zum Haus, die andere vom östlich gelegenen Teil der Bolstelmatt. Diese versorgt noch heute den Garten mit Wasser.
1874 wurde das Haus Zeuge, wie in der oberen Stube von der Schweizerischen Centralbahn Gesellschaft die Bauarbeiten für die Wasserfallenbahn an das deutsche Konsortium «Schneider, Münch und Jerschke» vergeben wurde. Dieses hatte den Auftrag, den Tunnel vom Nordportal durch die Wasserfallen gegen Mümliswil zu bauen mit dem Ziel, eine zweite Direktverbindung von Basel durch den Jura zu realisieren. Hans-Ulrich Zehntner hatte im Haus die Entscheidung gleich mitbekommen. Er soll einigen anderen im Haus anwesenden Bürgern zugerufen haben: "S’isch lätz, dass si’s nit de-n-Engländer geh hei, jetz isch lätz!". Der Ausruf wurde jahrelang im Dorf kolportiert. Zehnter sollte Recht behalten. Bereits im Folgejahr war das Unternehmen bankrott. Im Nachhinein wurde klar, dass die Centralbahn wenig Interesse am Erfolg dieses Baus gehabt und das Scheitern gerne in Kauf genommen hatte. Die Wasserfallenbahn hätte den zweiten Durchstich des Hauensteins bei Tecknau, der von der gleichen Eisenbahngesellschaft projektiert war, konkurrenziert.
Reigoldswil wurde in den Folgemonaten von einer grossen Anzahl Arbeiter bevölkert. Nebst den Einheimischen waren es Deutsche, Italiener, Tiroler und Tessiner. Nebst einigen «Kostgebereien» gab es 13 Restaurants! Im Bad wurde vorübergehend ein Spital in Betrieb genommen und am Hang zwischen Bad und Stacher wurde eine Kantine mit einer Massenunterkunft gebaut.
Im Oktober 1875 spielten sich im Zusammenhang mit der Einstellung der Arbeiten am Bahnbau Szenen ab, die wir sonst nur aus Wild-West-Filmen kennen. Mittendrin das Haus zum Reifenstein. Es wurde Zufluchtsort der drei Beamten der Unternehmerfirma mit ihren Familien, nachdem ihr Gebäude im Stacher beschossen worden war. Die Stimmung unter den Arbeitern war so gereizt, dass das Haus militärisch geschützt werden musste. Der Gemeinderat hatte 36 Mann in feldmässiger Ausrüstung aufgeboten. Nach einigen Tagen, so schrieb später Leo Zehntner, der als Zehnjähriger die kriegerische Lage im Haus persönlich miterlebt hatte, hätten sich die Eisenbahnarbeiter verlaufen «und die Beamten folgten ihnen einige Wochen später nach.»
1890 wurde die metallene Wetterfahne auf das Haus gesetzt. Sie hatte vorher auf dem hölzernen Dachreiter der Kirche über zweihundert Jahre den Reigoldswilern die Windrichtung angezeigt. Nach dem Bau des heutigen Kirchturms wurde sie auf das Wachhäuschen am Dorfplatz verpflanzt. Dort wurde sie allerdings schon kurze Zeit später mutwillig beschädigt, so dass der Gemeinderat beschloss, sie Hans-Ulrich Zehntner für das Haus zum Reifenstein zu schenken, nachdem dieser zwanzig Franken zur Belohnung des Missetäters ausgeschrieben hatte. Mit dem Umbau 2020 wurde die Wetterfahne durch eine neue ersetzt. Die alte, mit ihrer handwerklich wunderbar gefertigten Kugel, war vom Rost zerfressen und nicht mehr restaurierbar.
Im Haus gab es Gästezimmer, in denen Handelsreisende übernachteten und im Sommer auch Kurgäste aus der Stadt abstiegen. Im ersten Stock auf der östlichen Seite befand sich eine Laubenstube, die als Uhrenatelier genutzt wurde, ein erster Vorläufer der späteren Uhrenindustrie. Das Haus zum Reifenstein war zu dieser Zeit also Wohnhaus von drei Generationen, Arztpraxis, Wirts- und Gasthaus, Küferei, Uhrenatelier und Bauernbetrieb.
Das Haus zum Reifenstein ca. um 1900 mit Otto Zehntner und Marie Zehntner (und zwei unbekannten Personen)
1902 wurde das Hühnerhaus östlich des Hauses angebaut. Ausserdem wurden ein Wagenschopf und auch ein Bienenhaus gebaut, damit Marie, die Urgrossmutter des Autors, der Imkerei nachgehen konnte. 1926 zog der Bruder des Hauseigentümers, der Zoologe Dr. Leo Zehntner (1864 – 1961) ins Parterre des Hauses ein, nachdem er von einem 30-jährigen Forschungsaufenthalt in Java und Brasilien zurückgekehrt war. Sein Arbeitszimmer beherbergte nebst einer Vielzahl von Büchern eine wunderliche Sammlung von unterschiedlichsten Gegenständen wie Blasrohre, ausgestopfte Antilopenköpfe, ein Tigerfell, beschriftete Holzstücke, getrocknete, beschriftete Blüten und Versteinerungen. Vorhanden waren auch kleinere Kalkmuschelversteinerungen, Gesteinsproben vom «Bergli», die ihm als Anhaltspunkt dienten, dass sich früher dort, wo heute Reigoldswil liegt, ein Talsee befunden haben musste mit der Uferlinie auf der Höhe des bezeichnenderweise so benannten Hofes «Gstad». Als Kind, das mit seinen Eltern und den zwei Geschwistern im Stock darüber wohnte, betrat der Autor eine andere, abenteuerlich Welt, wenn er bei seinem Urgrossonkel, einem würdigen alten Mann mit weissem Bart und einer indonesischen Kopfbedeckung, um Süssigkeiten betteln ging.
Bevor 1952 die Eltern des Autors, Heiri und Annemarie Zehntner-Blaser, einzogen, waren Räume im ersten Stock als Polizeiposten vermietet. Anstelle der Laubenstube im ersten Stock auf der Hinterseite des Hauses wurden ein Bad und ein WC eingebaut. Bisher bestanden nur zwei Plumpsklos im hölzernen Anbau der Scheune. Die Eltern betrieben eine Gemüse- und Blumengärtnerei, ein Gartenbauunternehmen, und zusammen mit Heiris Bruder Hans-Peter – er wohnte ebenfalls im Haus – den Landwirtschaftsbetrieb. 1964 bezog die Grossmutter des Autors, Siona Zehntner-Faesch, nach dem Tod ihres Mannes Leo, der in Oberdorf seine Tierarztpraxis betrieben hatte, das Zimmer auf der linken Seite der Scheuneneinfahrt im Ökonomiegebäude.
Das Haus mit Umgebung und im Hintergrund die Ruine Reifenstein 1954
In den Monaten bis zur historischen Abstimmung zum Zusammenschluss der beiden Basel vom Dezember 1969 wurde das Haus zum Reifenstein zur organisatorischen Drehscheibe der örtlichen Initiative der Volksbewegung «Selbständiges Baselbiet». Es wurden Kundgebungen und Höhenfeuer geplant und organisiert. Für den Autor im jugendlichen Alter war es ebenso aufregend wie beeindruckend, die Männer im dichten Qualm aus Tabakpfeifen, Stumpen und Zigaretten zu erleben, wie sie fast generalstabsmässig für das Abstimmungswochenende Fahrdienste organisierten, um keine Stimme für das «Selbständige Baselbiet» zu verlieren.
1982 wurde ein Teil des Ökonomiegebäudes zu einer grosszügigen Wohnung umgebaut, die von Heiri Zehntners ältestem Sohn Christoph und seiner Ehefrau Suse bewohnt wurde. Später wurde die Wohnung an die Kindertagesstätte «Villa Kunterbunt» vermietet. Im Gewölbekeller der ehemaligen Scheune kelterte und lagerte Heiri Zehntner seinen Dielenberger Weisswein, nachdem er im Oberdörfer Dielenberg zwei Rebberge erworben hatte. Das Haus zum Reifenstein zierte als Strichzeichnung die Etiketten des Riesling-Sylvaners und des Bachhus, die dort gekeltert wurden. Nach dem Tod von Heiri ging das mittlerweile denkmalgeschützte Haus zum Reifenstein 2018 von der Erbengemeinschaft an den Autor dieses Beitrags über.
Eine Biedermeierfigur als Ladenhalter
Im September 2020 erfolgte ein einschneidender Eingriff in das Ortbilds, der die Ansicht des Hauses radikal veränderte: die beiden auf der Parzelle des Hauses gewachsenen, über 30 Meter hohen und rund 100 Jahre alten sogenannten Lebensbäume (Thuja plicata, auch Thuja gigantea genannt) mussten gefällt werden, um für die Erweiterung der Dorfstrasse Platz zu machen. Die Bäume hatten, - bis das Tiefbauamt des Kantons eine andere, der Fachstelle für Ortsbildschutz widersprechende Leseart durchgesetzt hat - als «ökologisch, wissenschaftlich, ästhetisch und kulturell besonders wertvolle Landschaftselemente» gegolten und waren darum als schutz- und erhaltenswert eigestuft worden. (Ironie der Geschichte im Zeitalter des Klimawandels: Die Bäume, welche etwa 4.5 Tonnen Sauerstoff pro Jahr abgaben und der Luft dabei etwa sechs Tonnen Feinstaub und andere Schadstoffe entzogen – ein ökologischer Nutzen, den etwa 2000 Jungbäume mit einem Kronenvolumen von je anderthalb Kubikmetern erbringen –, mussten der Strassenerweiterung für den motorisierten Verkehr weichen, der eben diesen Feinstaub produziert und den Sauerstoff verbraucht.)
2019/20 erfolgte die Sanierung mit der Erneuerung und Isolierung des Daches, dem Roheinbau einer Dachwohnung, der Erweiterung der Parterrewohnung und der Renovation der Wohnung im Ökonomiegebäude. Heute leben im Haus zum Reifenstein drei Familien mit insgesamt 5 Kindern. Mit der Familie von Thomas und Siona Müller-Zehntner und ihren beiden Söhnen Maximus und Julius bewohnen damit die 6. und 7. Generation der Familie des Erbauers dieses Haus, das als steinerner Zeitzeuge viele Ereignisse in Reigoldswil seit der Entstehung des Kantons miterlebt hat.
Beitrag Heimatkunde Reigoldswil zum Thema Erinnerungen an früher, verfasst Anfang 2023 von Daniel Zehntner